Die bemerkenswerte Altbauwohnung macht den ersten Eindruck. «In St.Gallen kann man sich so etwas leisten», sagt Jan Wiederkehr während er durch die Wohnung führt. Mit zwei Mitbewohnern teilt er sich sein Zuhause im Zentrum der Ostschweizer Hauptstadt und hat gleich zwei Zimmer gemietet. Eines davon scheint leer zu sein, entpuppt sich jedoch als Wiederkehrs Atelier. Barfuss in seinen Flip-Flops schlurft er mit einem Glas Wasser aus der Küche in den Flur und bittet herein in diesen wandelbaren Raum mit Kameras, Stative und Beleuchtung. Ein komplett weisser Raum zu haben, das wäre toll, doch der knarrende Holzboden hat Charme. «Stell dich bitte kurz hin», sagt er. Herumwuselnd stellt er das Setting auf, setzt sich dann auf einen Schemel und instruiert das Modell. «Wenn ich still bin, bin ich zufrieden mit deinen Bewegungen», sagt er. Denn er arbeitet impulsiv und nach Gefühl. Der Mensch vor der Kamera ist frei in Kleiderauswahl und Pose. Wiederkehr fotografiert ruhig und beobachtend. Er spielt mit Perspektiven und bricht die Grenzen des Settings auf. Denn oft sieht man Teile der Beleuchtung in den Ausschnitten. Er interagiert wortlos mit dem Modell. Wenn er spricht, fragt er auch mal persönliches. Interessiert und diskret. So kitzelt er Wesen heraus, die sonst schüchtern bleiben. Dies ist sein sechster Sinn. «Wenn sich das Modell nicht wohl fühlt, breche ich das Shooting ab», sagt er. Das ist ihm wichtig. Nur so entstehen echte Bilder des rohen Charakters seiner Modelle. Von gestellten Bildern hält er nicht viel. Sie müssen natürlich sein. Retusche wendet er nur an, wenn es explizit gewünscht wird. Das Endprodukt lässt sich sehen. Oft stösst er beim Durchstreifen seines beachtlichen Archivs auf fotografische Rohdiamanten und schleift sie weiter, bis sie Social-Media tauglich sind. Vertieft in das bläuliche Licht seines Laptops kann er Stunden damit verbringen. Jan ist ein einfacher  Mann der eine,  Vorliebe für Karohemden und Mützen hat

Autorin: Melissa Jetzer